Dieser Artikel wurde am 30. Juli 2011 veröffentlicht und ist möglicherweise nicht mehr aktuell!1965 beschreibt der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seinem Buch: „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ die Entwicklung der Bundesdeutschen…
Dieser Artikel wurde am 30. Juli 2011 veröffentlicht
und ist möglicherweise nicht mehr aktuell!

1965 beschreibt der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seinem Buch: „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ die Entwicklung der Bundesdeutschen Nachkriegsstädte. Seine Analysen und Prognosen haben sich fast 40 Jahre später mehr als bestätigt.

 

„Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag“, das war einmal

 

Das Privileg der mittelalterlichen Städte, Unfreie, die sich in die Stadt geflüchtet hatten, nach einem Jahr und einem Tag als freie Stadtbewohner zu erklären, wurde bereits 1231 mit dem „statutum in favorem principum“ aufgehoben. Die Landesfürsten erhielten wieder Zugriff auf die Städte und damit auf die Gerichtsbarkeit. Die erste Phase der Stadtentwicklung war damit beendet, Städte wie Hamburg hatten eine Einwohnerzahl erreicht, die heute ein mittlerer Flecken – eine lokal bedeutende Ansiedlung mit bis zu 10.000 Einwohnern – aufweist. Die weitere Entwicklung hing ab von dem Status der Stadt oder dem Gewerbe, das sie beherbergte. Trotzdem blieb das Wachstum in den nächsten sechshundert Jahren überschaubar. Erst mit der Industrialisierung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verloren die Städte ihren Charme, wurden sie zu dem Moloch, der begann, das umliegende Land aufzusaugen. Hamburg etwa versechsfachte innerhalb von fünfzig Jahren seine Einwohnerzahl und wurde innerhalb von einhundert Jahren von einer Stadt mit 100.000 Einwohnern zu einer Millionenstadt.

Für das Umland bedeutete es, diese gefräßigen Kraken zu versorgen, einen enormen Kraftakt. Gleichzeitig musste eine Infrastruktur geschaffen werden um den Abfall dieser auf engstem Raum konzentrierten Menschenmassen zu entsorgen. Die Auswirkungen auf die Umwelt durch den gigantischen Schadstoffausstoß machten sich allerdings erst Jahrzehnte später bemerkbar. Die neuen Stadtbewohner jedenfalls hatten sich nicht in eine neue Freiheit begeben, sondern hatten sich nun auf Gedeih und Verderb an die neuen Fürsten, die Fabrikbesitzer verkauft, lebten in Slums und damit unfähig sich selbst zu versorgen.

 

Mit der zweiten industriellen Revolution endet das Wachstum

 

Das völlig überhitzte Wachstum in der ersten Phase der Industrialisierung führte zu bisher unbekannten ökologischen und sozialen Problemen. Innerhalb von fünfzig Jahren zogen Hunderttausende zu den neuen Arbeitsplätzen in in kürzester Zeit aus dem Boden gestampfte Gettos. Plötzlich brauchte die Stadt nicht nur enorme Mengen an Energie, sondern auch Nahrung für die explosionsartig wachsende Bevölkerung, ganz abgesehen von der fast unmöglichen medizinischen Versorgung. Eine geordnete Stadtplanung, ein gesundes Wachsen der Stadt war absolut nicht mehr möglich. Erst im Nachhinein, in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts begannen Stadtplaner, Architekten, Soziologen verzweifelte Versuche das Chaos zu ordnen und Pläne für eine geordnete Entwicklung, sowie menschenwürdige Unterkünfte für die neue Gesellschaftsklasse, das Proletariat zu entwickeln. In der Charta von Athen wurde schließlich das Ergebnis der Studien zu einer globalen Forderung zusammengefasst.

Inzwischen hatte sich aber die Industrie gewandelt. Waren zuerst die Textil- und die Schwerindustrie (Montanindustrie) die Motoren der Entwicklung gewesen, begannen nun neue Technologien die Führungsrolle zu übernehmen. Chemie und Elektroindustrie, sowie der Maschinenbau wurden zu den Schlüsseltechnologien. Dies hatte für die Arbeiterklasse aber die Folge, dass nun Facharbeiter gefragt waren und der ungelernte Arbeiter seine Stelle aufgrund der gleichzeitig rasch fortschreitenden Automatisierung verlor. Das Fließband hielt Einzug in die nun fast aufgeräumt wirkenden Fertigungshallen.

In den Städten waren inzwischen um den alten, historischen und über Jahrhunderte gewachsenen Kern Tumorartige Auswüchse entstanden, um die Industriegebiete herum und in den kleinen Gemeinden im unmittelbaren Speckgürtel. Diese wuchsen schnell mit der Kernstadt zusammen und wurden bis in die 50er Jahre nach und nach eingemeindet.

Spätestens damit war der Wachstumsprozess abgeschlossen.

 

Mit der Globalisierung beginnt der Überlebenskampf so mancher Stadt

 

Nach dem Aderlass vieler deutscher Städte 1940 bis 1945 – Hamburg verlor etwa die Hälfte seiner Einwohner – erreichten sie innerhalb eines Jahrzehnts, in der Zeit des Wirtschaftswunders und Wiederaufbaus wieder den Vorkriegsstand. Seitdem allerdings stagniert der Bevölkerungsstand oder geht sogar langsam aber sicher zurück. Viel schlimmer für die Stadtentwicklung allerdings ist der finanzielle Verlust seitdem die Großindustrie im Zuge der globalen Entwicklung ihre Produktionsstätten – und oft auch den Firmensitz – aus den alten Industrienationen verlegt. Gleichzeitig verlassen immer mehr Bewohner, besonders junge Familien, die Städte und ziehen in die neuen Randgemeinden, die nun aber nicht mehr so schnell eingemeindet werden können. Damit gehen nach den Einnahmen aus den Steuern der Konzerne auch die der Einkommensteuern rapide zurück.

Bestehen bleibt allerdings der Bedarf an Energie, Trinkwasser und Nahrungsmitteln, sowie die Probleme der Entsorgung und des Erhalts der Infrastruktur. Diese Aufgaben überlasten in der Regel den Stadthaushalt, weshalb viele Großstädte permanent am Rande des Ruins stehen. Besonders belastend ist dabei der tägliche Infarkt des Verkehrs, der sich mit den veralteten Systemen des öffentlichen Stadtverkehrs nicht beherrschen lässt.

Da nun auch immer mehr Betriebe aus der Stadt, ebenfalls in die Region ziehen, ihre Betriebe an die neuen Verkehrsadern, die Autobahnen verlegen, nachdem die Bahn als Haupttransportmittel ihre Vormachtstellung abgegeben hat, müssen die Städte für sich neue Aufgaben, neue Bedeutung suchen. Diese liegt nun in Verwaltungsaufgaben, Dienstleistungen und einer mehr oder weniger großen kulturellen Bedeutung, als regionales Zentrum des Entertainments.

 

Das Ende der Unwirtlichkeit und der Wandel zu Zentren der Nachhaltigkeit?

 

Nachdem die großen Siedlungen, die nur zu Städten ernannt wurden, weil sie die entsprechende Einwohnerzahl aufwiesen, insbesondere in den alten Zentren der Schwerindustrie, zum Beispiel im deutschen Ruhrgebiet, die Umwelt ausgesogen und oft auf lange Zeit vergiftet, ja zerstört haben, beginnt seit dreißig Jahren ein Wandel, ein großes Aufräumen in den alten Industriestaaten. So manche eine Stadt versucht bereits noch vor der Region zu einem Zentrum nachhaltiger Entwicklung, eines Lebens im Einklang mit der Umwelt zu werden. In Städten wie Abu Dabi und Shanghai sollte gewaltsam sogar jeweils ein neuer Stadtteil entstehen, der vollständig autark und ohne schädlichen Einfluss auf Umwelt, Klima und Menschen ein Modell für ein zukünftiges Überleben auf diesem Planeten darstellt. Die Ökostadt Dontan (Shanghai) sollte bis zur Weltausstellung 2010 bereits 30.000 Menschen beherbergen, konnte aber bis auf einen Teil der Infrastruktur nicht fertig gestellt werden, so dass das Projekt beendet wurde. Der neue Stadtteil Masdar (Abu Dabi) ist in Teilen bereits in die Wüste gebaut, kommt aber vorerst aus Mangel an Geld und neuen Investoren nicht voran.

Die ideale Stadt, vom Reißbrett erstellt, kann ein über hunderte Generationen gewachsenes Zentrum nicht ersetzen. Allein künstlich geschaffene Regierungssitze wie Brasilia für Brasilien und Canberra für Australien konnten sich langsam behaupten.

 

Die Chance der Krise

 

Der Umbau des Ruhrgebietes, des ehemals größten Zentrums der Schwerindustrie in Deutschland, zeigt, dass die Stadt sich anpassen kann. Manchmal sind die Planer zu euphorisch, wie die Entwicklung der Docklands in London oder der Hafencity in Hamburg zeigen, doch wenn die Bürger beteiligt werden und die Planer behutsamer sind, kann es gelingen. Dann ist es auch möglich, die größten Probleme, nämlich die Versorgung der Stadt mit Energie, Lebensmitteln und Wasser in den Griff zu bekommen und die Auswirkungen auf die Umwelt durch Abwässer und Abgase erträglich zu machen. Seit den 70er Jahren wurden, völlig unbeachtet, weil noch nicht im Fokus der Öffentlichkeit und der Zeit weit voraus in den USA Modelle entwickelt, wie Gebäude im Stadtzentrum völlig autark existieren können („The Integral Urban House“ von Helga und Bill Olkowski – Farallone Institut 1979). Inzwischen werden Konzepte für Städte wie München untersucht, die Stadt vollständig Klimaneutral mit Energie zu versorgen und den Schadstoffausstoß in der City vollständig zu eliminieren. Durch das gestoppte Wachstum der Städte in Europa lässt sich dann auch die Ver- und Entsorgung dauerhaft organisieren, die Stadt in das Umland integrieren. Wird dieses Modell auf die aufstrebenden Industriestaaten der ehemaligen Dritten Welt übertragen, besteht eine Chance, dass die Fehler der Entwicklung der letzten einhundert Jahre nicht an anderer Stelle wiederholt werden.

 

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