Eine Gemeinschaftsleistung der ehemaligen Bewohner.
Dieser Artikel wurde am 7. März 2016 veröffentlicht
und ist möglicherweise nicht mehr aktuell!

Ein englisches „Assemble“, eine Versammlung von 18 jungen Architekten, Designern und Künstlern, hat den diesjährigen „Turner“-Preis erhalten, weil sie in einer erweiterten „Versammlung“ mit hunderten „Vertriebenen“, das waren Liverpooler Bürger, die ihre Häuser wegen Baufälligkeit verlassen mussten, genau diese Häuser, ja das ganze Stadtviertel Toxteth wieder „zusammengebaut“ – eben assembled – haben. All dies geschah ohne Unterstützung, ja zuerst auch gegen den Willen der Stadtverwaltung, in Eigenleistung, eben unter Mitwirkung und Hilfe der „Fachleute“, die letztlich den Menschen nur Mut machten und die Idee zur „Stadtreparatur“ vermittelten. Sozusagen eine Hilfe zur Selbsthilfe.

Wo Stadtplaner scheiterten haben die Menschen es selbst „in die Hand genommen“

Geplante Städte oder Stadtviertel strahlen in der Regel eine triste Gleichförmigkeit aus, besonders dann, wenn es sich um „kostengünstigen“ Wohnungsbau handelt. Oft werden gar alte Stadtviertel aufgegeben und durch neue – dann meist noch tristere ersetzt. Gerade gewachsene Städte, die sich langsam entwickelt haben, jeweils von den Bürgern errichtet, aber natürlich unter Wahrung regionaler Eigenarten, die man dann „regionalen Stil“ nennt, zeichnen sich durch eine harmonische und lebendige Atmosphäre aus. Das der lokale Charakter gewahrt bleibt ist allerdings wichtig, weil dieser auch die Identität der Menschen mit ihrem Ort bestimmt. Völlig deplatziert wirken dann besonders Vorortsiedlungen, die zuerst gleichförmig gebaut und mit den stillosen Allerweltsprodukten der Baumärkte verunstaltet werden. Das liegt meist daran, dass den Menschen das Gefühl für die Harmonie, das nennt man „Ästhetik“ fehlt, weil die Industrie sie mit einer Welle der Beliebigkeit überschüttet und Moden fast jährlich wechseln. Das englische Team „assemble“ hat es jedoch verstanden mit den Menschen vor Ort aus einer tristen, gleichförmigen englischen Vorstadtsiedlung ein Schmuckstück zu schaffen, das sowohl die regionale Eigenart und damit die Identität für die Menschen, die man auch „Heimatgefühl“ nennt, erhalten bleibt, als auch eine bunte Vielfallt entsteht, die manchmal gar zum Schmunzeln anregt. Aus den über 100 Jahre alten Reihenhauszeilen wurde so ein liebenswerter Ort, in den nun hunderte Bewohner gern zurückkehrten.

Aus Not kann eine Tugend werden

Bevormundung hat Menschen schon immer „unmündig“ gemacht. Wenn sie jedoch ermutigt werden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und auch noch eine Gemeinschaft finden, mit der sie gemeinsam diese Zukunft gestalten können, werden ungeahnte Kräfte und eine ungeahnte Kreativität mobilisiert. So, wie Flüchtlinge in ihren riesigen Lagern, wenn sie die Möglichkeit erkennen, aus diesen funktionierende „Städte“ entstehen lassen, so haben die Bewohner des preisgekrönten Stadtviertels in Liverpool „ihr Viertel“ gestaltet. Die jungen „Künstler“ haben lediglich den jeweiligen Anstoß gegeben und dort, wo Ideen – noch – fehlten, Alternativen aufgezeigt. Wenn Menschen jedoch merken, dass ihre Kreativität nicht „gebremst“ wird, entwickeln sie ganz von selbst wunderbare Ideen. Letztlich zeigt sich, dass Menschen eben Gemeinschaftswesen sind, über alle Grenzen der Herkunft hinweg und eben gemeinsam eine neue Identität entwickeln können.

Identität mit dem Ort schafft auch nachhaltige Zukunft

Wenn Menschen klar wird, dass der Ort, an dem sie leben und diesen benutzen „ihr“ Ort ist, erinnern sie sich an das alte Gemeinschaftsgefühl mit eben dem jeweiligen Ort. Wenn – wie leider üblich – alle Verantwortung bei der „Obrigkeit“ liegt, verlieren Menschen dieses Bewusstsein und die Orte, die Städte sehen dementsprechend „verwahrlost“ aus. Wie das Beispiel Toxteth zeigt, kann diese neue Identität dazu führen, dass plötzlich auch alle Probleme, die aus der vorherigen Unmündigkeit entstanden, verschwinden. Die zuvor arbeitslosen Bürger hatten nun eine Beschäftigung und die neue Gemeinschaft sorgte füreinander. Was nicht durch eigene Arbeit erledigt werden konnte, wenn z.B. Material beschafft werden musste, hat dieses die Gemeinschaft als Genossenschaft finanziert. Mit kreativen Ideen konnten Lösungen geschaffen werden, die mit wenig – oder sogar gar keinem – Geld auskamen und lediglich die Arbeitskraft der Bewohner brauchten. So wurde am Ende für jeden, unabhängig von seinen – finanziellen – Möglichkeiten ein neuer Wohn- und Arbeitsraum geschaffen. Aus den neu gebildeten Arbeitskollektiven wurden kleine Manufakturen, die nun auch andernorts ihre Produkte oder Leistungen anbieten können. Aus der aus der Not entstandenen Verwertung jedweden vorgefundenen Materials wurde eine „Recyclingkultur“, die mustergültig ist. Natürlich wurde auch der nunmehr gemeinschaftlich genutzte Freiraum, also die Straßenräume gemeinsam gestaltet, gepflegt und genutzt.
Grundsätzlich zeigen Beispiele wie Toxteth, aber auch schon hunderte ehemalige Favelas in Brasilien oder ehemalige Slums in Indien, dass die Menschen in der Lage sind, in der Gemeinschaft eine Zukunft zu gestalten, die deshalb nachhaltig ist, weil wieder ein Gefühl für sich als Gruppe einschließlich der Mitwelt entsteht, und so alle Probleme, die die so genannte und so hoch bewertete Zivilisation durch ihren Missbrauch der gesamten Mitwelt – und der Menschen – geschaffen hat, auf eine ganz einfache Weise erledigt werden können. Man muss den Menschen nur wieder die Gelegenheit geben, sich selbst als Mitglieder der gesamten Gemeinschaft – also einschließlich ihrer jeweiligen Mitwelt – zu begreifen.

http://assemblestudio.co.uk/
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/kollektiv-assemble-100.html
http://www.sueddeutsche.de/kultur/britischer-kunstpreis-assemble-gelingt-woran-staedteplaner-scheitern-1.2766027
http://www.zeit.de/kultur/kunst/2015-12/kunst-turner-prize-assemble-nicole-wermers
https://nena1.ch/