Für die meisten von uns ist jetzt irgendwie die Zeit gekommen, in der die Pandemie, die damit einhergehenden Einschränkungen, Unsicherheiten, ständige Krankenzahlen, Ängste, Sorgen und Unsicherheiten einfach nur mehr nerven. Kein Wunder, dass sich Anspannung und Frust breitmachen. Auch in Beziehungen. Wir haben das zum Anlass genommen, um mit der psychologischen Beraterin Lisa Vesely von Beziehung bewegt über Beziehungen in der Pandemie und über nachhaltige Zufriedenheit in Partnerschaften zu sprechen.
Für die Paar- und Sexualberaterin steht dabei eines ganz klar fest: Ohne Authentizität geht es nicht – zumindest nicht zufriedenstellend. Warum genau diese Authentizität sowohl ein emotionales Verletzungsrisiko als auch eine enorme Chance für Beziehungen bedeuten kann und ob das neben der klassisch monogamen Paarkonstellation auch für offene und polyamouröse Beziehungen gilt, hat sie uns im Interview verraten.
Wie hat sich die Pandemie auf die Paare und deren Beziehungsqualität im vergangenen Jahr ausgewirkt?
Vesely: „Das lässt sich so allgemein nicht beantworten, denn das wird und wurde von Paaren ganz unterschiedlich erlebt und hängt auch stark davon ab, wie sich die äußeren Umstände für das Paar gestalten. Manche haben näher zusammengefunden, andere erlebten das vergangene Jahr als intensive partnerschaftliche Belastung. Es ist ein Unterschied, ob wir von einem Paar sprechen, das zu zweit in einem großen Haus mit Garten lebt, in dem jeder schon vor der Pandemie sein eigenes Büro hatte, oder ob wir von einem Paar sprechen, das mit zwei Kindern in der Stadtwohnung lebt, in der beide seit einem Jahr im Homeoffice sind, das man sich am Küchentisch teilt, während auch noch die Kleinen im Homeschooling betreut werden müssen. Prinzipiell sagen diese äußeren Umstände aber wiederum auch nichts in Stein Gemeißeltes über die Beziehungsqualität der unterschiedlichen Paare aus.“
Das heißt, es ist nicht automatisch so, dass es dem Paar mit Haus in der Liebe gerade deutlich besser geht als dem Paar, das mit drei kleinen Kindern in der Stadt wohnt?
Vesely: „Genau. Ich erlebe stattdessen, dass die Pandemie ein bisschen wie ein Katalysator für die Qualität der Beziehung fungiert. Einige Paare, die davor schon ihre Stärke in der gemeinsamen Meisterung des Alltags erlebt haben, fühlen sich zum Teil bestärkt in ihrer tollen partnerschaftlichen Qualität, die auch äußeren Krisen gewachsen ist. Wo davor aber schon mit Müh und Not versucht wurde, Krisenherde klein zu halten, werden die Themen durch die oft andauernde und vor allem nicht selbst gewählte Nähe zum Partner bzw. zur Partnerin häufig offensichtlicher. Außerdem fehlen gewisse Rückzugs-, Krafttank- und Abstandsmöglichkeiten, die manche Paare gewohnt sind. Das Feierabendbier in der Lieblingskneipe mit den Kolleginnen, bei dem man sich austauschen kann, oder der Wochenend-Kurztrip mit den Kumpels, nach dem der Kopf wieder frei ist – das fällt alles schon lange weg. Es ist augenscheinlich, dass es den Menschen langsam mit der Pandemie einfach reicht. Die Nerven liegen teilweise blank, die Frustration ist eine große und auch sehr stabile Menschen kämpfen nach über einem Jahr der Einschränkungen mittlerweile mit sich selbst und den Maßnahmen. Natürlich wirkt sich das auch auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen aus.“
Wie gelingt es dann, Ihrer Ansicht nach, in der Krise nachhaltig seine Partnerschaft zu pflegen?
Vesely: „Ich würde sagen, genauso wie ohne Pandemie auch (lacht). Aus meiner Sicht ist einer der wichtigsten Schlüssel für eine nachhaltige Zufriedenheit in Partnerschaften, dass wir Menschen uns trauen, sie authentisch zu leben. Also uns zum Beispiel auch ansprechen trauen, dass man jetzt einmal Abstand braucht, und sich den einander auch zuzugestehen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisserl banal, ist es aber ganz und gar nicht. Wünsche und Bedürfnisse tatsächlich offen anzusprechen, kann für viele Menschen eine besondere Herausforderung sein.“
Viele Paare klagen darüber, dass sich nichts änder, obwohl sie ihre Unzufriedenheit und Wünsche immer wieder ansprechen. Sind Missverständnisse in Beziehungen also ein reines Kommunikationsproblem?
Vesely: „Ja und nein. Es gibt natürlich konstruktivere und destruktivere Möglichkeiten, sich in einer Beziehung mitzuteilen. Aber die beste Kommunikationsstrategie nutzt einem herzlich wenig, wenn man selbst nicht genau weiß, was man eigentlich kommunizieren will. Das ist häufiger der Fall, als wir denken, weil vordergründig scheinen wir ja genau zu wissen, worum es uns geht. Es zeigt sich aber in der Paarberatung immer wieder, dass es eigentlich um ganz andere Dinge geht, als die Paare – zum Teil seit Jahren schon – glauben. Es kann aber auch sein, dass wir Menschen ganz genau spüren, was wir brauchen, uns das aber vor dem Partner oder der Partnerin nicht aussprechen trauen. Weil wir uns dadurch vielleicht selbst verletzbar machen oder Sorge haben, das Gegenüber vor den Kopf zu stoßen. An der Kommunikationsstrategie alleine liegt es also selten.“
Könnten Sie das an einem konkreten Beispiel illustrieren?
Vesely: „Es gibt unheimlich tolle Kommunikationsmodelle, wie beispielsweise die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg, die ich in der Paarberatung gern vorstelle. Dabei geht es weniger um die Vermeidung von Beschimpfungen in der Sprache, wie der Name vielleicht vermuten lässt, sondern um ein Konzept, das vier Schritte einer gelungenen Kommunikation in Konfliktsituationen beschreibt: Erstens beobachten, ohne zu bewerten; zweitens sein Gefühl ausdrücken, ohne zu interpretieren; drittens das eigene Bedürfnis dazu formulieren, ohne zu kritisieren, und viertens um eine mögliche Handlung bitten, anstatt zu fordern oder zu drohen. Schauen wir uns das am Klischee der offenen Zahnpastatube an: Destruktiv wäre das, was häufig ein Standard-Gesprächsverlauf in einem ausgewachsenen Beziehungskonflikt ist: ,Du bist so unordentlich (Bewertung), du willst mich doch mit der offenen Tube absichtlich ärgern (Interpretation). Kannst du dir das nicht endlich merken? (Kritik) Wenn ich das morgen wieder so vorfinde, kannst du dir gleich einen anderen suchen!’ (Drohung) Nach Rosenberg liefe die Alternative in etwa so: ,Ich sehe hier liegt die offene Zahnpasta (Beobachtung), das ärgert mich (Gefühl), weil ich gerne hätte, dass die Pasta nicht austrocknet. (Bedürfnis) Könntest du bitte darauf achten, die Tube in Zukunft zu verschließen?’ Da gibt es für das Gegenüber nichts zu verteidigen, man unterbricht damit also die Rechtfertigungsspirale und einer echten, machbaren Bitte kommen viele Menschen sogar gerne nach. Zumindest lieber, als sich einer Drohung ausgesetzt zu wissen. Wenn man darauf trotzdem ein Nein hört, könnte es sein, dass es vielleicht durchaus noch ganz andere Probleme in der Beziehung gibt als Zahnpastatuben.“
Das klingt ja jetzt relativ einfach. Warum kommunizieren wir dann nicht alle immer so?
Vesely: „Das Prinzip dahinter ist auch vergleichsweise einfach. Die Ausführung aber eben nicht immer. Erstens sind wir in Streitsituationen oft in unseren eigenen Emotionen verhaftet, was es nicht unbedingt leichter macht, klar und konstruktiv zu bleiben. Und zweitens wird die Schwierigkeit des Kommunikationsmodells an Beispielen deutlicher, die allgemein als etwas heikler empfunden werden und für viele ein größeres Verletzungs- und Kränkungsrisiko bergen als rumliegende Socken oder offene Zahnpastatuben. Nehmen wir zum Beispiel das Thema lange Arbeitszeiten. Da könnte ein klassischer Vorwurf in einem fortgeschrittenen Konflikt so lauten: ,Du bist nie daheim, du bist ein Rabenvater, deine Arbeit ist dir wichtiger als wir, wenn das so weitergeht, such’ ich mir einen anderen.’ In der Beratung frage ich dann oft, worum es eigentlich geht. ,Ja, dass er mehr daheim ist“, ist dann eine mögliche Antwort. Aber daraus erkenne ich noch kein Gefühl und auch kein Bedürfnis. Genau hier liegt die vorhin angesprochene Schwierigkeit. Es ist häufig wesentlich einfacher und vor allem auch mit weniger emotionalem Risiko verbunden, Vorwürfe zu machen, anstatt sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. ,Ich fühle mich einsam ohne dich und habe das Bedürfnis, dass wir mehr Zeit als Paar miteinander verbringen’ mischt die Karten neu. Dafür muss man aber erst einmal selbst dahinter kommen, dass hinter dem Ärger auf den Partner eigentlich das Gefühl der Einsamkeit und eine Sehnsucht nach mehr Zeit miteinander stehen. Wenn man gerade sehr böse auf den Partner oder die Partnerin ist, liegt das oft nicht so klar auf der Hand. Und wenn doch, muss man sich das ja auch erst einmal zu kommunizieren trauen. Das ist eigentlich ein Großteil meiner Arbeit als Paarberaterin: Mit den Paaren ihre tatsächlichen Bedürfnisse und Gefühle herauszufinden, sie dabei zu unterstützen, sich diese auch aussprechen zu trauen, und sie dabei zu begleiten, wie sich die daraus neu ergebenden Dynamiken entwickeln. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem es beiden möglich wird, sich einander auf neue Weise zu offenbaren. Lange, bevor es um Kommunikationstechniken geht. Die kann man nämlich auch aus Büchern lernen.“
Warum glauben wir eigentlich, dass es uns so verletzbar macht, wenn wir offen miteinander sind?
Vesely: „Naja, es könnte theoretisch sein, dass das Gegenüber sagt: ,Ok, du fühlst dich einsam. Das ist mir aber gleichgültig und ich will nicht mehr Zeit mit dir verbringen.’ Vor so etwas kann man sich schon einmal fürchten. Wenn das so tatsächlich als Antwort käme, dann ist das zwar ehrlich, wirft aber auch die gesamte Beziehungsdynamik komplett durcheinander. Und stellt vieles plötzlich auf zum Teil sehr unangenehme Art und Weise in Frage. Eine solche Offenheit kann also einen hohen Preis haben, den viele nicht bereit sind zu zahlen. Darum streiten ja manche Paare jahre- oder jahrzehntelang um den heißen Brei herum, also um die Socken, die Zahnpasta, die Häufigkeit der gemeinsamen Sexualität, den Fremdkuss auf der Weihnachtsfeier vor 14 Jahren, die Arbeitszeiten oder die Haushaltsteilung. ,Du nervst so mit deiner ständigen Nörgelei über meine Arbeitszeiten’ trifft einen anderen Teil unseres Selbst und ist für manche deutlich einfacher zu ertragen als ,Dass du dich einsam fühlst, ist mir egal’.“
So wie Sie das schildern, lohnt es sich also gar nicht, offen miteinander zu sprechen. Das ist ja ein enormes Risiko, sich so zu öffnen und dann Ablehnung zu erfahren!
Vesely: „Das ist ein großes emotionales Risiko, ja. Aber es lohnt sich aus meiner Sicht nicht nur, es einzugehen, es ist nach meiner Erfahrung in der Paarberatung sogar eine Grundvoraussetzung dafür, dass wichtige Bedürfnisse innerhalb der Partnerschaft überhaupt befriedigt werden können. Und das ist relevant, wenn man auf lange Sicht eine für alle Beteiligten zufriedene Beziehung führen möchte. Viel öfter als ,Das ist mir egal, dass du dich so fühlst’ erlebe ich nämlich auf ehrliche Offenbarungen in der Beratung etwas ganz anderes: Dass der Partner oder die Partnerin oftmals berührt und überrascht ist über die tatsächlichen Gefühle des Gegenübers. Man hat diese zwar vielleicht in Form von Unzufriedenheit, Vorwürfen und Anspannungen schon lange gespürt, konnte sie aber nicht greifen. Wenn sie dann plötzlich authentisch und ohne Vorwurf kommuniziert werden, erlebe ich in der Beratung oftmals eine große Erleichterung bei den Paaren und den Impuls, die Bedürfnisse des Partners bzw. der Partnerin im Rahmen des Möglichen sogar sehr gerne erfüllen zu wollen.“
Und dann ändert sich etwas? Auch wenn es schon lange sehr eingefahren ist?
Vesely: „Das kann durchaus sein, ja. Bedürfnisse des anderen plötzlich neu kennenzulernen, macht einen selbst ja auch wieder handlungsfähig. Etwas, das viele Paare in langen Konfliktperioden vermissen. Das zeigt sich dann in dem häufig resignativ ausgesprochenen Satz: ,Ich kann ja eh gar nichts mehr richtig machen.’ Aber auf einmal ist da eine mit dem offenbarten Bedürfnis verbundene Bitte, der man auch wirklich nachkommen kann. Man sieht also wieder Handlungsfähigkeit und fühlt, dass man auf die gemeinsame Zufriedenheit doch aktiv Einfluss nehmen kann. Das gibt Paaren häufig eine ganz neue Motivation mit. Es kann aber natürlich auch sein, dass sich dadurch herausstellt, dass es Bedürfnisse gibt, die der oder die andere tatsächlich nicht erfüllen kann oder auch nicht erfüllen möchte. Aber auch diese Erkenntnis ist ein wichtiger beziehungsdynamischer Entwicklungsschritt, denn er ermöglicht das Vorankommen. In welche Richtung auch immer. Man kann dann zum Beispiel beginnen herauszufinden, was der oder die andere braucht, um auf Bedürfnisse doch einzugehen. Also beispielsweise, ob einer dem anderen nicht vielleicht doch deutlich mehr Freiräume zugestehen könnte, wenn er oder sie dafür die Sicherheit verspürt, dass gleichzeitig an anderer Stelle intensive Nähe miteinander weiterhin möglich ist. Oder aber man kann andernfalls aufhören, bestimmten Dingen in der Beziehung nachzulaufen, die so nicht eintreten werden und stattdessen die freiwerdende Energie dafür verwenden herauszufinden, wie man auch unter diesen jetzt klar gewordenen Bedingungen Zufriedenheit in der Beziehung finden kann. Es kann aber natürlich auch eine Trennung bedeuten, die nach langen Jahren der Beziehung oft auch mit einem hohen emotionalen oder zusätzlich auch teils finanziellen Preis behaftet ist. Also streitet man unbewusst manchmal aus guten Gründen weiter, um dem nicht ins Auge blicken zu müssen.“
Wenn man sich nun bewusst dafür entscheidet, die Beziehung weiterführen zu wollen und daraus eine für beide Seiten nachhaltig zufriedene zu machen: Was also braucht es dafür?
Vesely: „Da gibt es leider kein Patentrezept, denn das hängt von so vielen verschiedenen Faktoren ab: Was alle Beteiligten an Bindungs- sowie Beziehungserfahrungen und Wertvorstellungen mitbringen, ob überhaupt noch irgendeine Bereitschaft oder Interesse da ist, dem oder der anderen offen zuzuhören und natürlich ob es den Wunsch gibt, für Veränderungen auch aktiv selbst etwas zu tun. Ganz allgemein würde ich aber sagen, dass eine nachhaltig zufrieden geführte Beziehung bei einem selbst beginnt anstatt beim Gegenüber. Damit meine ich nicht so sehr den ,Liebe dich selbst, dann können es auch andere tun’-Gedanken, der auch seine Berechtigung hat. Sondern ich meine damit, dass es wichtig ist, ein Gespür für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu entwickeln. Das ist für einige Menschen oftmals schon ein langwieriger Prozess, auf den es gilt, sich bewusst einzulassen. Es bringt beziehungsdynamisch nichts Konstruktives, nach außen hin cool und abgeklärt zu tun, wenn man innerlich gekränkt ist. Diese Ambivalenz ist fürs Gegenüber spürbar, aber eben oft nicht greifbar. Vielleicht ist man aber auch so sozialisiert, dass es im eigenen Weltbild gar nicht ok ist, Verletzlichkeit und Kränkung zu zeigen. Dann ist es umso herausfordernder, sich zu erlauben, authentisch zu agieren. Es braucht also die Erlaubnis an sich selbst, all seine Anteile innerlich zu Wort kommen zu lassen. Das erfordert Mut – sich selbst gegenüber, aber auch dem Partner oder der Partnerin gegenüber, wenn man beschließt, sich ihm oder ihr offenbaren zu wollen. Authentizität aller Beteiligten halte ich also für einen wichtigen Baustein zufriedener Beziehungen.“
Gilt das auch für offene oder polyamouröse Beziehungen, die derzeit immer mehr an Bedeutung gewinnen – und können diese neuen Beziehungsformen überhaupt nachhaltig gelebt werden?
Vesely: „Ich sehe keinen Grund, warum nachhaltige Beziehungsformen nicht in vielen verschiedenen Konstellationen möglich sein sollen, auch wenn es meiner Ansicht nach wahrscheinlich dafür noch ein wenig mehr Auseinandersetzung, Offenheit und eigene Reflexion braucht. Es ist ja oft schon für zwei Beteiligte ein enormer Lernprozess, sich einander wirklich zu öffnen. Diese Herausforderung nimmt mit jeder weiteren beteiligten Person ein Stückchen zu. Gerade in einem Umfeld, in dem Offenheit und ein Open-Mind-Setting als wesentliches Wertekonstrukt empfunden werden, kann das sogar manchmal noch etwas schwieriger sein. Da wird etwa Eifersucht oder das Bedürfnis nach Zeit zu zweit und Exklusivität innerlich zum Teil sofort abgewertet, weil es sich vermeintlich nicht gehört bzw. als reaktionär empfunden wird. Aber auch diese Gefühle sind – wie alle anderen – normal und berechtigt. Wichtig ist, damit einen Umgang zu finden, mit dem sich alle Beteiligten wohlfühlen. Es braucht also gerade auch in offenen und polyamoren Beziehungsformen für alle Beteiligten die Sicherheit, vermeintlich unpassende Gefühle ausdrücken zu dürfen. Nur so kann man sie besprechbar machen und mit dem Wissen neue gemeinsame Rahmenbedingungen vereinbaren, die es braucht, damit sich alle Beteiligten wieder wohlfühlen. Das ist – wie in allen anderen Beziehungen auch – aber häufig nur eine Momentaufnahme und sollte daher immer wieder neu besprochen werden dürfen. Denn es kann jederzeit sein, dass sich bei einem bzw. einer der Beteiligten innerlich wieder etwas ändert. Leben und Beziehungen sind Entwicklung. Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass die Regeln, Werte und Vereinbarungen, die man einmal am Anfang einer Beziehung festgelegt hat, so für immer und ewig im gleichen Maß für alle als passend empfunden werden müssen.“
Wann sollte man in eine Paarberatung kommen?
Vesely: „Aus meiner Sicht macht es immer dann Sinn, wenn Paare das Gefühl haben, dass Belastungen – sei es durch wiederkehrende Muster, Vertrauensbrüche, Werteunterschiede, Schicksalsschläge, Lebensumstellungen, sexuelle Unzufriedenheiten etc. – so groß werden, dass sie die Beziehungsqualität beginnen einzuschränken und die eigene Zufriedenheit darunter zu leiden beginnt. Man kann als Paar natürlich auch davor schon zu einer Beratung kommen, aber da frage ich immer im Erstgespräch ganz genau nach: Geht es um ein ganz konkretes Anliegen, also beispielsweise ‚Eh alles super, aber wir wollen lernen, dass wir auch nach einem Streit schneller wieder aufeinander zugehen können‘ oder ,Eh alles super, aber da gibt es dieses eine Thema, das wollen wir aufarbeiten, bevor es zur Belastung wird’? Oder geht es, wie es gelegentlich der Fall ist, darum, dass ein Paar mit sich selbst nicht mehr die Zeit und Möglichkeit findet, so miteinander zu sprechen, wie es sich beide wünschen. Da machen sich manche Paare dann einen Termin für die Beratung aus, weil man den nicht so leichtfertig absagt oder verschiebt wie das geplante Dinner miteinander. In dem Fall sage ich – wenn nicht grad Lockdown ist – immer gerne, dass sie aus meiner Sicht beim nächsten Mal das Geld lieber nehmen und für ein schönes gemeinsame Essen ausgeben sollen und dass die einzige Hausaufgabe bis dahin ist, das Dinner-Date dann genauso ernst zu nehmen wie den Paarberatungstermin.“
Eine letzte persönliche Frage: Wenn man Paarberaterin ist, ist dann die eigene Beziehung eigentlich völlig konfliktfrei?
Vesely: (lacht) „Nein. Abgesehen davon, dass es im Leben eine gewisse Form von Auseinandersetzung braucht, sowohl mit sich selbst als auch zu zweit, zu dritt oder zu viert, um voranzukommen und sich zu entwickeln, erlebe auch ich in meinem Leben sowie in Beziehungen Konflikte und Herausforderungen. Ich bin zwar vom Fach, aber keineswegs ein Roboter. Ich bilde mir natürlich gerne ein, dass ich in meinen persönlichen Beziehungsmustern manche Dinge rascher erkennen und darauf dadurch vielleicht schneller konstruktiv eingehen kann (lacht). Ob das wirklich so ist, müssen andere beurteilen. Ich möchte mich jedenfalls unabhängig davon zu Hause lieber privat als beruflich verhalten.“
Fotocredit: © #viewitlikejenni und Eric Ward/Unsplash
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