Oder: Was verschwindet, wenn die großen Raubtiere verschwinden?
Dieser Artikel wurde am 17. März 2021 veröffentlicht
und ist möglicherweise nicht mehr aktuell!

In so gut wie allen natürlichen Ökosystemen gibt es Beutetiere und Raubtiere, oft auch als Beutegreifer bezeichnet. Manche – meist mittelgroße Tiere – können sowohl zur einen als auch zur anderen Gruppe gleichzeitig zählen. Als große Beutegreifer, so genannte Spitzenprädatoren, werden jene gezählt, die keine natürlichen Feinde (außer dem Menschen) haben.

In Zentraleuropa sind dies vor allem Wölfe, Bären und Luchse. Andere Gegenden beheimaten stattdessen diverse Großkatzen wie Löwen und Tiger. Im Meer zählen dazu vor allem Zahnwale wie der Pottwal oder der Schwertwal und die Lüfte werden von diversen Greifvögeln und Eulen regiert.

Auch wenn der Luchs oft vergessen wird, weil er nur noch sehr selten ist, ist er ein wichtiger Beutegreifer in Mitteleuropa. – Photocredit: pixabay.com/blende12

Meist werden diese Tiere als gefährlich und bedrohlich dargestellt und wahrgenommen. Es werden Geschichten geteilt, dass sie, wenn sie einen Menschen nur wittern schon sofort Jagd auf ihn machen und er praktisch keine Chance hat zu überleben. Aber stimmt das überhaupt? Und was passiert eigentlich, wenn sie ihre natürliche Rolle im Ökosystem nicht mehr ausführen können? Welche Folgen hat es, dass sie nicht mehr oder nur in geringen Zahlen vorhanden sind?

Ihre Aufgabe

Spitzenprädatoren haben eine Vielzahl an Aufgaben in einem Ökosystem. Sie sind nicht, wie viele vielleicht meinen, die „Bösen“. Die Natur hat für jedes Lebewesen eine Aufgabe, damit für das gesamte System eine Balance geschaffen wird. Und die wesentliche Aufgabe der großen Beutegreifer liegt vor allem darin, die oft in wesentlich größeren Mengen vorhandenen Beutetiere im Zaum zu halten. Dies wiederum dient dazu, dass Bäume und Sträucher besser wachsen können, da sie nicht von den Grasfressern zu stark dezimiert werden. Und Büsche und Bäume wiederum dienen als Lebensraum für eine Vielzahl weiterer kleiner Lebewesen.

Die Verbindung, welchen Einfluss Spitzenprädatoren wie etwa der Wolf auf ein Ökosystem haben kann, ist in einem Video über den Yellowstone Nationalpark sehr schön veranschaulicht.

Wölfe sind extrem scheu. Sie einmal zu sehen oder heulen zu hören ist eine ausgesprochene Seltenheit. – Photocredit: pixabay.com/colfelly

Der Kreislauf

Die großen Raubtiere werden oft als „an der Spitze der Nahrungspyramide“ dargestellt. Dabei wird jedoch ganz vergessen, dass die Natur keine lineare und klar definiere Struktur hat, sondern ein komplexes Netzwerk darstellt. In diesem Netzwerken spielt jedes Lebewesen, vom größten bis zum kleinsten irgendwann mal die Rolle des „Fressers“ oder dessen, der gefressen wird. Es gibt keine Hierarchie, weil alle Lebewesen intuitiv wissen, dass sie von den anderen abhängig sind.

Das Lern-Netzwerk

Sie sind außerdem nicht nur voneinander abhängig, weil sie ihre Nahrungsketten schließen. Sie bilden außerdem ein ideales Umfeld für den Aufbau von Resilienz. Durch die Raubtiere müssen die Beutetiere lernen, sich besser zu tarnen, listiger zu entkommen, oder andere Abwehrmechanismen zu entwickeln. Durch die bessere Abwehr wiederum sind auch die Beutegreifer dazu herausgefordert, immer schlauer zu agieren. Dieser Kreislauf stärkt alle beteiligten Lebewesen, und somit das gesamte Ökosystem.

Alte Hirsche mit großem Geweih werden von Wölfen nur dann erlegt, wenn sie bereits schwach sind und sich nicht mehr ausreichend schützen können. – Photocredit: pixabay.com/Free-Photos

Die großen Raubtiere verschwinden

Würden also die großen Raubtiere immer mehr verschwinden, so wie dies bereits in vielen Gegenden Mitteleuropas der Fall ist, so wird dadurch das gesamte System geschwächt. Und auch wenn der Mensch einige Aufgaben der großen Beutegreifer etwa durch die Jagd übernommen hat, so geschieht dies meist aus anderen Intentionen und Gesichtspunkten heraus und heutzutage meist nicht auf Augenhöhe. Stattdessen nutzen die Menschen technische Vorteile, die wiederum ein Ungleichgewicht herstellen.

Einem Rudel Wölfe ist es egal, ob es sich nun um ein besonders junges Tier mit zartem Fleisch oder ein altes mit einem großen Geweih handelt. Sie jagen ohne speziellem Hintergedanken, und dabei wird das schwächste Glied eliminiert. Das wiederum stärkt den Rest der Gruppe.

Das Verschwinden der großen Raubtiere in Mitteleuropa hat vor allem zwei Ursachen. Entweder wurden sie von Menschen gejagt, oder sie haben schlichtweg durch Verbauung der Landschaft ihren Lebensraum verloren. Die Menschen haben Teile ihrer Aufgaben übernommen. Aber können wir wirklich einen adäquaten Ersatz bieten? Und waren die großen Raubtiere nicht auch dazu da, uns als Menschen stärker herauszufordern?

Aufgrund der Geschichten über den Grizzlybär haben viele Angst. Der bei uns heimische Braunbär ist jedoch nur aggressiv, wenn er sich gefährdet fühlt. – Photocredit: pixabay.com/Bergadder

Was wir wirklich alles verlieren oder längst verloren haben ist ohne tiefgehende Studien wohl schwer in seiner Vollständigkeit zu erfassen. Teils wurde bereits erforscht, warum etwa Wölfe auch in von Menschen bewohnten gegenden wichtig für die Regulierung des Wildbestandes sind.

Es ist jedoch vor allem ein weiteres Beispiel des Eingriffs des Menschen in natürliche Prozesse. Und es stellt sich die Frage, ob wir als Menschen wirklich so gut geeignet sind, all diese Lücken im Netzwerk adäquat auszufüllen, die wir durch diverse Eingriffe erschaffen haben.

Was können wir tun?

Zunächst mal benötigen wir eine Bewusstseinsbildung, dass große Raubtiere wie Wolf, Bär und Luchs zu den größten Teilen keinerlei direkte Gefahr für uns Menschen darstellen. Sie sind jedoch sehr wichtig zur Erhaltung der allgemeinen Gesundheit des Systems.

Ja, es besteht das Risiko, dass sie Schafe oder auch andere vom Menschen gehaltene Tiere reißen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass die meisten dieser Tiere schon viele Generationen nicht mehr in diesem natürlichen, sich selbst stärkenden Kreislauf eingebettet waren. Dadurch haben sie meist keinerlei Chancen, sich adäquat zu wehren.

Wenn wir also zu einem wirklich gesunden, resilienten, sich selbst stabilisierenden Ökosystem beitragen wollen, ist es auch notwendig, sich dieser stärkenden und stabilisierenden Bewegung anzuschließen. Dies hat viele Ebenen und kann von der Unterstützung und dem Erhalt alter, resilienter Rassen diverser Beutetiere, bis hin dazu gehen, Lebensräume zu erhalten oder der wilden Natur zurückzugeben. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt.

Fazit

Durch meine kürzliche Erfahrung, zwei Wochen lang den Spuren eines Rudels Wölfe in Schweden folgen zu dürfen, durfte ich nochmal auf einer tieferen Ebene erleben, wie wichtig der Erhalt des natürlichen Gleichgewichtes ist. Ich durfte erleben, wie scheu diese Tiere tatsächlich sind, und wie sehr wir ihren Lebensraum bereits eingeschränkt haben.

Und auch der Mensch als großes Raubtier hat durch die geschaffene Überlegenheit nicht nur Vorteile gezogen. Daher frage ich mich inzwischen immer mehr, was wir von diesen eindrucksvollen Tieren noch alles lernen können und dürfen.

Weitere Quellen

Rewilding – Projekte für großflächiges Verwildern
biologie-seite.de: Spitzenprädator
idw-online.de: Wölfe sind wichtig für die Regulierung von Wildtierbeständen
bu-praktisch.de: Haie – Ein Jäger wird zum Gejagten
guardianway.eu: Stories from Becoming Wolf 2021: An Overview of the Mission