Unsere Antworten sind immer nur so gut wie die gestellten Fragen.
Dieser Artikel wurde am 16. Juni 2021 veröffentlicht
und ist möglicherweise nicht mehr aktuell!

Es gibt viele Methoden, wie wir in einer Gruppe zu Entscheidungen kommen. Das geht von Diktatur, über Demokratie bis hin zur Soziokratie, und ganz vielen anderen Formen der partizipativen Entscheidungsfindung. Aber all diese Entscheidungsformen zielen darauf ab, Antworten zu finden. Dabei wird die Ausgangsfrage aber oft gar nicht so genau hinterfragt oder beleuchtet. Was also, wenn wir uns darauf fokussieren, die passende Frage zu stellen?

Einstein sagte einst, dass wenn er nur eine einzige Stunde hätte, ein Problem zu lösen, würde er 55 Minuten dazu nutzen, über das Problem nachzudenken, und 5 Minuten über die Lösung. Der epherme Gruppenprozesses nimmt diese Aussage, und bietet eine Methode, um genau diese Herangehensweise skaliert auf Gemeinschaftsebene umzusetzen. Aber was bedeutet das im Detail?

Der Epherme Gruppenprozess

Der epherme Gruppenprozess ist eine Methode, wie wir als Gesellschaft gemeinschaftlich zu zukunftsfähigen Lösungen für herausfordernde Probleme kommen. Dabei wird aber eben nicht darauf fokussiert, wie wir darüber abstimmen, welche Antwort die Beste ist. Stattdessen liegt der Fokus auf dem Finden der Kernfrage, und somit dem Herausfinden des eigentlichen Problems.

Komplexe Probleme haben selten nur eine einzige Frage, die relevant ist. Alles hängt irgendwie zusammen. – Photocredit: rawpixel.com/Teddy

Hierzu werden zunächst für das anstehende Thema Fragen von der Gruppe gesammelt. Wenn es etwa darum geht, eine Brücke zu bauen, damit die Bewohner der einen Seite sicher auf die andere Seite zur Schule oder zur Arbeit kommen, könnte eine der Ausgangsfragen lauten: „Wie können wir diese Brücke bauen?“

Sind die initialen Fragen gesammelt, wählt jeder Teilnehmer die aus seiner/ihrer Sicht wichtigen Fragen. Entsprechend der gewählten Fragen werden die Arbeitsgruppen aufgeteilt, und wird die jeweils gewählte Frage als Ausgangsfrage verwendet.

Wenn wir uns zusammentun, sind wir mehr als nur die Summe der einzelnen. Auch und speziell wenn es um die Suche von guten Fragen geht. – Photocredit: rawpixel.com/Roungroat

Jede Gruppe wird von einem Fragen-Coach begleitet und taucht nun tiefer in die Frage ein. Dabei helfen Hilfsfragen wie:

  • Was weiß ich über die Frage?

  • Welche Erfahrungen habe ich damit, worum es bei dieser Frage überhaupt geht?

  • Ist mir die Frage wirklich wichtig?

  • Glaube ich wirklich, dass das eine gute Frage ist?

Die weiteren Fragen, die durch diesen Prozess entstehen, werden gesammelt, den jeweils anderen Arbeitsgruppen weitergegeben, bzw. für den weiteren Prozess festgehalten.

Warum Fragen so kraftvoll sind

Je nachdem, ob wir uns die Frage stellen: „Wie können wir diese Brücke bauen?“ oder „Wie können wir sicherstellen, dass die Bewohner gut ausgebildet sind und arbeiten können, ohne am Weg dorthin täglich dem Risiko ausgesetzt zu sein, bei der Flussüberquerung zu sterben?“ können zwei sehr unterschiedliche Antworten entstehen. Die erste Frage nimmt an, dass wir bereits wissen, was die Lösung ist, ohne uns wirklich mit dem Kernproblem beschäftigt zu haben. Die zweite Frage hingegen ist bereits etwas näher beim Kern des Problems.

Das Beispiel zeigt aber vor allem, dass es wichtig ist, im ersten Schritt mal herauszufinden, was das eigentliche Problem, die eigentliche Frage ist, die wir beantworten wollen. Wenn wir nicht annehmen, schon einen Teil der Antwort zu kennen, dann können völlig neue Ideen entstehen.

Wenn wir vor allem stärker auf die Frage fokussiert in einen Prozess gehen, laufen wir nicht Gefahr, Antworten auf Fragen zu finden, die möglicherweise gar nicht so wirklich relevant sind.

Die ideale Gruppengröße bei diesem Prozess sind 5-7 Personen. – Photocredit: rawpixel.com/Helena

Gute Fragen

Wenn wir also erkennen, dass Fragen wichtig und kraftvoll sind, und es relevant ist, welche Fragen wir stellen, ist die logische nächste Frage: Was definiert eine gute Frage und wie können wir das Stellen guter, interessanter Fragen lernen?

Am Einfachsten zu unterscheiden sind wohl ja-nein-Fragen von offenen Fragen, die etwa mit einer der W-Fragewörter beginnen. Aber selbst wenn wir offene Fragen stellen, können daraus nicht nur interessante, sondern auch weniger interessante Fragen entstehen. Je mehr wir uns aber auf den Prozess einlassen, uns auf die wichtigen Fragen anstatt auf die Antwort zu konzentrieren, und auch das Feedback der anderen Teilnehmer des Gruppenprozesses mit einbeziehen, können wir auch das Stellen von guten, interessanten Fragen Schritt für Schritt lernen.

Herausforderungen

Sich diesem ephermen Gruppenprozess wirklich hinzugeben braucht im ersten Schritt vor allem viel Geduld und Vertrauen, dass wir zu einem Ergebnis kommen, und Mut, sich auch auf den Prozess einzulassen.

Der epherme Gruppenprozess ist so entwickelt, dass er auch gut über weite Distanzen hinweg funktioniert. – Photocredit: rawpixel.com/Jubjang

Es geht nicht nur darum, das Problem von einem selbst losgelöst zu betrachten, sondern gleichzeitig auch die eigene Aufgabe und Rolle im Lösungsprozess zu erkennen. Dafür müssen wir uns eingestehen, warum uns das Thema wichtig ist. Worum es nicht nur generell geht, sondern uns ganz konkret. Wenn unsere Kernmotivation im Zusammenhang mit der Kernfrage klarer ist, können wir uns viel offener auch dem Lösungsprozess widmen.

Fazit

Die Kraft von Fragen wird in unseren üblichen Lösungsfindungsprozessen viel zu häufig unterschätzt. Wir suchen nach einer schnellen, einfachen Lösung. Und sind viel zu häufig ungeduldig, oder nicht bereit, näher hinzuschauen. Das liegt vor allem an einer Kultur der ständigen Optimierung und Effizienzsteigerung, ohne dabei auf die Effektivität zu achten. Egal wie sehr wir unterm Strich alles dreimal (oder noch öfter) machen müssen, weil wir uns mit der eigentlichen Frage, dem eigentlichen Problem zu wenig auseinandergesetzt haben. Wie könnte also eine Welt aussehen, wo wir anstatt sofort eine Antwort zu geben, wir zunächst mal eine gute Frage finden?

Quellen

Soziokratie Modell für einen Neuanfang
Holokratie – die neue Soziokratie?
Nachhaltige Entscheidungen in der Gruppe
Ephemeral Group Process – EGP.community
YouTube: Ephemeral Group Process w/ Forrest Landry
YouTube: Ephemeral Group Process & Civilization Design (Visionary Solutions with Forrest Landry: Episode #2)
Vimeo: What is Ephemeral Group Process?
goodreads.com: Zitat Albert Einstein